Als mein Blick vom Hotel aus über die Stadt Tromsø schweifte, erblickte ich mitten in dem architektonischen Durcheinander ein Gebäude, das mich sofort an die Schalenbauwerke des DDR-Bauingenieurs Ulrich Müther denken ließ – die Konstruktion hat große Ähnlichkeit mit dem Teepott in Warnemünde.
Das musste ich mir näher ansehen und entdeckte so, dass das Gebäude die öffentliche Bibliothek von Tromsø ist.
Einige wenige Bauwerke wurden nach Müthers Plänen außerhalb der DDR errichtet, sollte auch dieses Schalendach von ihm entworfen worden sein? Ein Schild der Selskapet for Tromsø bys vel (Gesellschaft für das Wohl der Stadt Tromsø) klärt auf:
Das Gebäude wurde Ende der 1960-er Jahre vom Architekten Gunnar Bøgeberg Haugen entworfen und 1973 eingeweiht. Die Dachkonstruktion führte Haugen als Betonschale nach den Prinzipien des Architekten Félix Candela aus, der als Meister des Betonschalenbaus gilt. Die gewagte Dachkonstruktion war seinerzeit in der Tromsøer Bevölkerung sehr umstritten. Heute zählt dieser Solitär zu den Wahrzeichen Tromsøs und wird zu den schönsten und coolsten Bibliotheken des Landes gerechnet.
Ursprünglich beherbergte der Bau das Fokus Kino mit rund 750 Sitzplätzen. Auf dem Webauftritt des Norwegischen Rundfunks NRK findet man einen Beitrag mit dem Titel Es wurde das seltsamste Kino der Welt genannt samt einem Video von der Einweihung des Kinos, in dem man die damalige äußere Gestaltung als auch die Beschaffenheit des Kinosaals sehen kann. Leider reichen meine Kenntnisse des Norwegischen bei weitem nicht für eine Übersetzung der Tonspur aus.
Bild von nrk.no; Klick aus Bild führt zum Beitrag mit Video von der Eröffnung im Jahr 1973
Die Konstruktion ist so standfest, dass beim 2003 begonnenen Umbau zur Bibliothek der Kinosaal unter dem Dach abgerissen wurde und nur das selbsttragende Dach stehen blieb (siehe Bilder arkitekturguide.uit.no). Darunter entstand dann nach Plänen des Architektenbüros HRTB Arkitekter AS die Bibliothek mit ihren Glasfassaden, die 2005 eingeweiht wurde.
Die ursprüngliche Architektur erscheint mir erheblich moderner als der jetzige Zustand und gefällt mir auch viel besser.
Grønnegata 94,
9008 Tromsø
+47 77 79 00 00
tromso.kommune.no
Ein interessantes Gebäude, aber erst jetzt.
Durch die nachträglich untergebaute Glaskonstruktion bekommt das Dachgewölbe erst die Bedeutung, die es verdient. Jetzt ist die Schalenkonstruktion der dominante Teil und mehr Skulptur als Gebäude.
Vorher, mit der eher an einen Abluftschacht erinnernde Unterbau, hatte die Dachschale mehr den Zweck, Regen ab zu halten. Da kann man schon verstehen, dass das Gebäude nicht so gut angekommen ist. Mit dem Glasunterbau finde ich, dass es den Charakter eines Wahrzeichens hat.
So unterschiedlich können die Wahrnehmungen sein …
Und das ist auch gut so.
Auch ich stimme eher mit Herrn Dudek überein. Durch die Transparenz des Gebäudes kommt die selbst tragende Betonschale erst in den Fokus. Aber wie auch immer, sehr gut gesehen und geschrieben. Danke für deine Architekturbeiträge. Alle!
Gruß von mazze
Zu Teepott und Tromsø: 2009 ist der Schweizer Architekt Heinz Isler gestorben (wurde auch in der deutschen Bauzeitung gewürdigt), der über 100 Gebäude mit sehr dünnen Betonschalen gebaut hat, von den leider nur noch wenige stehen (weg sind sie wg. Wachstum, nicht wg. schlechter Qualität). Stichwort zum Anschauen: Isler Schalen.
mit besten Grüssen und einem dicken Kompliment für den blog – für mich ein glücklicher Zufallsfund!
Peter Stöckling, Zürich
Vielen Dank für den Hinweis auf Heinz Isler. Im ihm gewidmeten Wikipedia-Artikelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Islersind Bilder einiger seiner Bauten.